Kaum ein Begriff ist so eng mit dem Ruhrgebiet verknüpft wie
„Strukturwandel“. Er bezeichnet die grundlegenden gesellschaftlichen und
ökonomischen Veränderungen, die der Abschied von der ehedem
dominierenden Montanindustrie ausgelöst hat. Er soll uns Anlass sein,
darüber nachzudenken, wie das (Privat-)Recht auf den Wandel
gesellschaftlicher Strukturen reagiert und wie die rechtlichen
Strukturen selbst sich wandeln. Dabei kann es nicht dem
Selbstverständnis vom Recht als einer Wissenschaft entsprechen, jedwede
Veränderung in den Blick zu nehmen und so gleichsam das eigene Wirken
den drei berichtigenden Worten des Gesetzgebers anheimzustellen. Im
Fokus der Tagung sollen vielmehr die das Privatrecht prägenden
Strukturen und deren Wandel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
stehen.
Kodifikationsidee und Privatrechtsdenken
Für das deutschsprachige Privatrecht dürfte in den letzten Dekaden
nichts so prägend gewesen sein wie dessen Kodifikationen – die
pandektistischen Kodifikationen Deutschlands und der Schweiz sowie die
dem Institutionensystem folgenden Kodifikationen Österreichs und
Liechtensteins. Eine Kodifikation beruht auf dem Gedanken, das für einen
bestimmten Lebensbereich geltende Recht zusammenzustellen und
systematisch aufzubereiten, um Sichtbarkeit, Bedeutung und Stringenz des
gesetzten Rechts zu erhöhen. So sind die Kodifikationen Ausdruck eines
systematischen Privatrechtsdenkens. Dessen hohe Anziehungskraft hat es
zum Rezeptionsgegenstand vor allem in Südostasien gemacht, wo bis heute
das Privatrecht auf kontinentaleuropäischem Fundament steht. Dagegen
waren die mit der Kodifikation in erster Linie verknüpften
nationalstaatlichen Einigungsbestrebungen lange in den Hintergrund
getreten, tauchen aber im Zuge der Europäisierung des Privatrechts unter
anderen Vorzeichen wieder auf. Die bedeutendste Frage bei der
privatrechtlichen Normsetzung lautet stets, ob diese innerhalb oder
außerhalb der Kodifikation verortet werden kann und soll. Die
Integration einer Neuregelung in die Kodifikation bedeutet die
unmittelbare Verknüpfung mit dem wesentlichen Normbestand und verspricht
eine höhere Kohärenz sowie Akzeptanz gegenüber einem Sondergesetz. Das
europäische Fallrecht ist das prominenteste Beispiel dafür, dass die
Integration neuer Normen in eine Kodifikation umso schwieriger ist, je
weiter deren Quelle vom systematischen Rechtsdenken entfernt liegt.
Können die Kodifikationen ihre Integrations- und Strahlkraft auch
künftig bewahren oder verblassen diese zunehmend in einer Zeit, in der
Rechtsetzung immer mehr von der Gesetzgebungskunst zur unreflektierten
Abschreibübung verkommt?
Freiheit und Gleichheit der Privatrechtsakteure
Nach dem
„langen Abschied vom Bürgertum“
sind Bürger und Kaufleute nur noch Namensgeber des ehedem für sie
geformten Zivil- und Handelsrechts. Die heutigen Akteure des
Privatrechtsrechts sind Verbraucher und Unternehmer, häufig beides in
einer Person. Ging das alte Privatrecht von der strukturellen Gleichheit
der Handelnden aus, die selbstbestimmt untereinander agierten und so
gerechte Entscheidungen erzeugten, geht das moderne Privatrecht vielfach
vom Gegenteil struktureller Ungleichheit seiner Akteure aus, die jedoch
nicht durch die Zugehörigkeit zu einem Stand bedingt, sondern
rollenspezifisch zugeschrieben wird. Ein und dieselbe Person ist in
ihrem Beschäftigungsverhältnis Arbeitnehmer, beim wöchentlichen Einkauf
Verbraucher, als Wohnungseigentümer Vermieter und als
Internet-Powerseller Unternehmer. Als eigentliche Akteure erscheinen
gleichwohl die Unternehmen und Verbände, die unser auf die
Individualberechtigung zugeschnittenes Privatrecht zunehmend
strapazieren.
Ziviljustiz und Rechtsgestaltung
Diese Umwälzungen schlagen unweigerlich auf die Ziviljustiz durch.
Das Maß an obrigkeitlicher Fürsorge wird gern als verlässlicher
Gradmesser für den Zustand des Zivilprozesses überhaupt herausgestellt.
Alternative Streitbeilegungsmechanismen loten die Grenzen dessen aus,
was ernsthaft noch als spezifisch rechtliche Konfliktlösung bezeichnet
werden kann. Der technische Fortschritt dürfte sowohl vergleichsweise
rasche Veränderungen für die Rechtspflege bedeuten als auch geeignet
sein, die Grundausrichtung des Zivilprozesses zu verändern. Noch ist
nicht abzusehen, wie die neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und
-übermittlung den Beibringungsgrundsatz, das Unmittelbarkeitsprinzip und
den Prozessbetrieb, insbesondere im Hinblick auf Fristen und
Zustellungen, verändern werden. Die digitale Akte und das virtuelle
Postfach bergen ebenso Chancen und Risiken wie elektronisch geführte und
abrufbare Register. „Legaltech“ und „Smart Contracts“ sind bisher
lediglich modische Worthülsen, könnten aber einen Wandel für anwaltliche
Rechtsberatung und -gestaltung einläuten.
Wirtschaftsrecht und Arbeitswelt
Vielfältige Erscheinungen des Wirtschafts- und Arbeitslebens lassen
sich mit den überkommenen rechtlichen Strukturen nicht einfangen.
Konzern und (Gesamt-)Betrieb sind Rechtsbegriffe, die die Zuschreibung
rechtlicher Verantwortung ermöglichen sollen, die unser auf den
rechtsfähigen Unternehmensträger fixiertes Personenrecht nicht erlaubt.
Die Arbeitnehmerschaft ist durch zunehmende Kurz- und Leiharbeit im
Wandel begriffen und mit ihr das Arbeitsrecht. Zukunftsthemen wie das
Crowdworking stellen die hergebrachten Organisationsstrukturen in Frage.
Eine starke Gewerkschaft mag unbequem sein, steht aber für
Verbindlichkeit. Demgegenüber werfen Tarifpluralität, Whistleblowing und
wilde Streiks bereits heute die Schatten einer asymmetrischen
Streitkultur voraus.
Privatrecht und Öffentliches Recht
Privatrecht und Öffentliches Recht erscheinen im deutschsprachigen
Rechtsraum heute noch als ausdifferenzierte Subsysteme, die zwar
vielfältig miteinander verzweigt, aber dennoch autonom sind. Diese
continental distinction verwischt zunehmend und damit auch das
„Denken vom Staat her“.
Je mehr der Staat sich spezifisch privatrechtlicher Handlungsformen
bedient, je mehr Staatsaufgaben auf Private delegiert oder ohne
hoheitlichen Auftrag durch diese wahrgenommen werden, desto weniger
taugt
„Staat als Argument“. Die undifferenzierte europarechtliche Überformung befördert diese Entwicklung zusätzlich. War einst die
„Publifizierung des bürgerlichen Rechts“
das große Thema, könnte sich die Entwicklung umkehren – das Privatrecht
absorbiert sukzessiv Teile des Öffentlichen Rechts und wandelt unser
Privatrechts- wie Staatsverständnis.
Familien- und Personenrecht
Kaum ein Bereich des Privatrechts unterliegt fundamentaleren
Veränderungen als das Familien- und Personenrecht. War es in den
Nachkriegsjahren die sukzessive Überwindung des Patriarchats und sodann
die rechtliche Einhegung gleichgeschlechtlicher und statusloser
Partnerschaften, werden gegenwärtig die rechtlichen Grenzen zwischen
leiblicher und sozialer Elternschaft neu bestimmt. Die
einzelfallbezogenen Entscheidungen über die Gewährung von
Auskunftsansprüchen zur Klärung der Elternschaft und Abstammung sind ein
Gradmesser für die Justiziabilität der Intimsphäre. Die in Deutschland
vollzogene Ausgliederung des Familienverfahrens aus der ZPO und dessen
Zusammenführung mit der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit ist sichtbarer
Ausdruck einer gewandelten Streitkultur. Gleichzeitig ist das Familien-
und Personenrecht besonders stark von der nationalen Identität geprägt,
so dass der international-privatrechtliche
Ordre-public-Vorbehalt
vor allem im Zusammenhang mit der Anwendung islamischen Rechts steht.
Künftig könnten Auslandsadoption und Leihmutterschaft einen
Strukturwandel des Privatrechts ebenso nach sich ziehen wie
Transidentität und -sexualität. Nicht zuletzt der demographische Wandel
rückt das Thema Selbstbestimmung zum und über das Lebensende in den
Vordergrund und stellt uns vor die Frage, ob überhaupt und – wenn ja –
inwieweit diese Fragen einer rechtlichen Regelung zugänglich sind.
Persönlichkeitsschutz und Urheberrecht
Es war eine bewusste Entscheidung der deutschen Kodifikationsväter,
das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus dem BGB auszuklammern, um einer
Kommerzialisierung nicht Vorschub zu leisten. Das Versäumnis ist bis
heute nicht nachgeholt und hat zu einer weitgehenden Verrechtlichung
jenseits des BGB geführt. Anders halten es sowohl das ältere ABGB als
auch das jüngere ZGB. Aber ganz gleich ob innerhalb der Kodifikation, in
Nebengesetzen oder qua Richterrecht – die selbst- und fremdbestimmte
Vermarktung der Person hat sich im 20. Jahrhundert ungeahnt Bahn
gebrochen und ein vorläufiges Ende ist nicht in Sicht. Das einst als
Regelungsmaterie für die Herstellung und Verbreitung der Werke von
Literaten, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden konzipierte
Urheberrecht bekommt ganz neue Aufgaben in einer digitalisierten
Gesellschaft, in der jedermann zu jederzeit ohne nennenswerte Kosten
Fotos, Videos und Texte herstellen, verbreiten, vervielfältigen und auf
diese zugreifen kann.
Europäisierung, Internationalisierung und Renationalisierung
Die fortschreitende europäische Integration ragt mittlerweile bis in
die privatrechtlichen Kernbereiche hinein und gestaltet sukzessive
tradierte Regelungsstrukturen um - so nähern sich etwa im deutschen
Recht unter dem Einfluss des Verbraucherrechts die Vertragstypen „Kauf“
und „Werk“ immer mehr an. Bis vor Kurzem schien der Ruf nach
Europäisierung und Internationalisierung ein nie endendes Echo zu
erzeugen, das der „Brexit“ abrupt absorbiert hat. Diese jüngsten
Renationalisierungstendenzen werden nicht ohne Einfluss auf das
(europäische) Privatrecht bleiben.
Die nachstehende Aufzählung hofft
Anregungen zu bieten, wie „Strukturwandel und Privatrecht“ in
Einzelthemen aussehen könnte, schließt aber selbstverständlich andere
Themen nicht aus.
Kodifikationsidee und Privatrechtsdenken
- Zur Kongruenz von innerem und äußerem System
- Kodifikation von Einzelfallgerechtigkeit – Hilflosigkeit oder notwendiges Korrektiv?
- Einheitliches Recht für vielfältiges Leben – Abschied von der Kodifikationsidee?
- Die Rezeption deutschen Privatrechts
Freiheit und Gleichheit der Privatrechtsakteure
- Bürger und Kaufmann, Verbraucher und Unternehmer – vom Standesmodell zum Rollendenken
- Verbandsinteressen im Korsett subjektiver Privatrechte
Privatrecht und Öffentliches Recht
- Öffentliches Recht in privatrechtlichen Strukturen
- Kompetenzielle Auszehrung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Sonderzuweisungen
Ziviljustiz und Rechtsgestaltung
- Chancen und Risiken gewandelter Registerpublizität
- „Legaltech“ & „Smart Contracts“ – Rechtsdienstleistung als standardisiertes Massenprodukt
- Einheitsmodell und Entwicklung von Sonderprozessrecht(en)
Wirtschaftsrecht und Arbeitswelt
- Crowdworking – die neue Scheinselbständigkeit?
- Asymmetrische Streitkultur und das Arbeits(kampf)recht
Familien- und Personenrecht
- Wandlung des Statusprinzips – Abschied oder Dynamisierung?
- Das Familienleben – Rechtsfreier Raum oder Prozessgegenstand?
- Ist der binäre Geschlechtercode im Personenrecht noch zeitgemäß?
- Ordre-public-Vorbehalt und Islamisches (Familien-)Recht
- Selbstbestimmung zum und über das Lebensende
Persönlichkeitsschutz und Urheberrecht
- Die Kommerzialisierung der Persönlichkeit – wird der Mensch zum Rechtsobjekt?
- Funktionswandel des Urheberrechts im digitalen Zeitalter
- Ist das Kunst oder kann das jeder? – mit Smartphone und Selfie-Stick zur Schöpfungshöhe
Europäisierung, Internationalisierung und Renationalisierung
- Europäisierung ohne Ende oder das Ende der Europäisierung?
Wir freuen uns sehr, wenn das Thema der 29. Jahrestagung der
Gesellschaft Junger Zivilrechtswissenschaftler e.V. Ihr und Euer
Interesse geweckt hat. Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, ein
bis zu zwanzigminütiges Referat in deutscher Sprache zu übernehmen,
bitten wir, ein Exposé von maximal zwei Seiten und einen Lebenslauf
bis zum 15. April 2018 per E-Mail an
gjz2018@rub.de zu übersenden.
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